Das Märchen vom Schlaraffenland
Ich weiß ein Land, wohin mancher gern ziehen möchte, wenn er wüsste, wo es liegt. Dieses schöne Land heißt Schlaraffenland.
Da sind die Häuser gedeckt mit Eierkuchen, die Türen sind von Lebkuchen und
die Wände aus Schweinebraten. Um jedes Haus steht ein Zaun, der ist aus
Bratwürsten geflochten.
Aus allen Brunnen fließt süßer Wein und süßer Saft. Wer den
gern trinkt, braucht nur den Mund unter das Brunnenrohr zu halten, und
der süße Saft rinnt ihm nur so hinein.
Auf den Birken und Weiden, da wachsen frischgebackene Semmeln,
und unter den Bäumen, da fließen Milchbäche. Die Semmlen fallen in sie
hinein und weichen sich selbst ein. Das ist etwas für die Kinder, die
sich gern einbrocken!
Die Fische schwimmen im Schlaraffenland oben auf dem Wasser.
Sie sind auch schon gebacken oder gesotten und schwimmen ganz nahe am
Ufer. Wenn aber einer gar zu faul ist und ein echter Schlaraff, der
darf nur 'Bst! Bst!' rufen - und die Fische kommen aufs Land
herausspaziert und hüpfen dem guten Schlaraffen in die Hand, dass er
sich nicht zu bücken braucht.
Ihr könnt es ruhig glauben, die Vögel fliegen dort gebraten in
der Luft herum, die Gänse, Enten und Hühner, die Truthühner und die
Tauben. Und wem es zu viel Mühe macht, die Hand danach auszustrecken,
dem fliegen sie schnurstracks in den Mund hinein. Die Spanferkel laufen
gebraten umher, das Messer steckt ihnen schon im Rücken, damit, wer
will, sich ein frisches, saftiges Stück abschneiden kann.
Käse liegt im Schlaraffenland wie Steine groß und klein
umher. Die Steine selbst sind lauter gefüllte Pasteten. Im Winter,
wenn es regnet, regnet es lauter Honig in süßen Tropfen. Da kann einer
lecken und schlecken, dass es eine Lust ist. Und wenn es schneit, so
schneit es Staubzucker, und wenn es hagelt, so hagelt es Würfelzucker,
vermischt mit Feigen, Rosinen und Mandeln.
Das Geld kann man von den Bäumen wie gute Kastanien schütteln.
Jeder mag sich das beste herunterschütteln, das mindere lässt er
liegen.
In dem Land, da gibt es auch große Wälder. Da wachsen im
Buschwerk und auf den Bäumen die schönsten Kleider, Röcke, Mäntel,
Hosen und Westen in allen Farben, schwarz, grün, gelb, blau und rot.
Wer ein neues Gewand braucht, geht in den Wald und wirft es mit einem
Stein herunter. Auf der Wiese wachsen schöne Damenkleider aus Samt und
Seide, die Grashalme sind bunte Bänder.
Die Wacholderstöcke tragen Broschen und goldene Nadeln, und
die Beeren sind nicht schwarz, sondern echte Perlen. An den Tannen
hängen Armbanduhren. Auf den Stauden wachsen Stiefel und Schuhe,
Sommer- und Winterhüte und allerlei Kopfputz.
Dieses edle Land hat auch ein Jungbad. Alte und kranke Leute
baden darin drei Tage oder vier, und sie werden gesund und jung und
schmuck und sehen wie siebzehn oder achtzehn aus.
Auch mancherlei Spaß und Kurzweil gibt es im
Schlaraffenland. Wer zu Hause kein Glück hat, der hat es dort bestimmt.
Beim Spielen wird er immer gewinnen, beim Schießen wird er immer ins
Schwarze treffen. Wer die Leute am besten necken und aufziehen kann,
bekommt jedes Mal ein Goldstück.
Für die Schlafsäcke und Faulpelze, die bei uns durch ihre
Faulheit arm werden und betteln gehen müssen, ist das Schlaraffenland
gerade das richtige Land. Jede Stunde Schlafen bringt dort ein
Silberstück ein und jedes Mal Gähnen ein Goldstück. Wer gern arbeitet,
das Gute tut und das Böse lässt, der wird aus dem Schlaraffenland
vertrieben. Aber wer nichts kann, nur schlafen, essen, trinken, tanzen
und spielen, der wird zum Grafen ernannt. Und der Faulste wird König im
Schlaraffenland.
Nun wisst ihr, wie es im Schlaraffenland zugeht. Und wer gern
hinreisen will, aber den Weg nicht weiß, der frage einen Blinden. Auch
ein Stummer wird ihm keinen falschen Weg sagen. Aber der Weg dahin ist
weit für die Jungen und für Alten, denen es im Winter zu heiß und im
Sommer zu kalt ist. Noch dazu ist um das ganze Land herum eine berghohe
Mauer aus Reisbrei. Wer hinein oder heraus will, muss sich da erst mal
durchessen.
(Gebrüder Grimm)
~ ~ ~
Was, wenn dieses Schlaraffenland in Wirklichkeit gar kein Märchen ist? Was, wenn der Sinn des Lebens tatsächlich im Genießen liegt? Was, wenn es wirklich die Wahrheit wäre, dass auf der Erde alles im Überfluss vorhanden ist? Was, wenn der Sinn des Daseins tatsächlich darin liegt, nur das zu tun, was man wirklich möchte? Was, wenn es die Wahrheit wäre, Erfahrungen zu machen, die aus Freude, Schönheit und Hingabe an die Lebenslust bestehen?
Unvorstellbar? Vielleicht nicht ...
Alle Lebewesen außer den Menschen
wissen, dass der Hauptzweck des
Lebens darin besteht, es zu genießen.
(Samuel Butler)
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