Das patentierte Krokodil
Es war eine
Wüste, und in der Wüste war ein Fluss, und in dem Fluss war ein Krokodil.
Es tut mir leid, es zu sagen, aber Krokodile sind nicht beliebt. Nein.
Das kommt nicht etwa daher, weil ihre Toilette meist schlammig und
salopp ist oder weil sie unleugbar einen etwas unsympathischen Zug um
den Mund haben, denn das sind schließlich Äußerlichkeiten. Die
Unbeliebtheit kommt vom Appetit. Das ist in der ganzen Welt so: je
größer der Appetit, um so kleiner die Beliebtheit. Liebe und
Freundschaft gedeihen nur unter Ausschluss des Appetits, und man
versteigt sich sogar so weit, die harmloseste Konversation nur
einzugehen unter der engherzigen Bedingung, dass man nicht gefressen
oder auch nur angeknabbert wird. Es ist gewiss einseitig, aber auch
begreiflich, denn niemand will, kaum dass ein paar verbindliche Worte
gewechselt sind, gleich ohne Hände oder Beine dasitzen, die er doch
anderweitig benötigt und die ihm schließlich auch gehören.
Und so ist man
bei jedem, den man verschlucken will, unbeliebt. Da nun das Krokodil
auf alles Appetit hat und alles verschlucken will, so ist es auch bei
allen unbeliebt. Es schluckt Missionare, Frösche, Neger, Affen und
selbst die eigenen Familienangehörigen - alles aus Appetit. Es bekommt
ihm auch alles - Gott sei Dank -, und es verdaut auch alles, sogar
seine Verwandten. Das Krokodil lag also in dem Fluss, der in der Wüste
war, hatte Appetit und war böse. Böse war es nicht, weil es Appetit
hatte, sondern weil nichts da war für den Appetit, und da ist jeder
böse, nicht nur ein Krokodil, sondern auch die zarteste Dame. "Wie
schön wäre jetzt ein Weißer!" sagte das Krokodil und blinzelte in die
Morgensonne. "Weiße sind zum Frühstück am besten, Neger sind besser zum
Mittagessen, sie sind öliger und halten länger vor. Es ist ein
Unterschied wie zwischen Huhn und Ente. Pikant sind Weinreisende, sie
haben Wildgeschmack durch den Alkoholgenuss und sind meist gut im
Stande."
Das Krokodil lächelte wehmütig, wodurch sich der
unangenehme Zug um den Mund noch verschärfte, so leid es mir tut, das
zu sagen. "Nicht mal einheimische Küche ist zu haben", fuhr das
Krokodil fort und schluckte heißhungrig, "ich wäre schon mit
Hausmannskost zufrieden, mit einem Neffen oder einer Nichte. Aber einen
Teil hab' ich gegessen, die anderen sind flussabwärts geschwommen, man
hat gar kein verwandtschaftliches Gefühl mehr heutzutage. Was nützt da
der Appetit?!" Und das Krokodil bettete seinen hungrigen Magen tiefer
in den nassen Schlamm, machte die Augen resigniert zu und gähnte. Dabei
hielt es nicht mal die Vordertatze vor den Mund, denn der Mund ist
sowieso zu groß, und dann gibt das Krokodil überhaupt nicht viel auf
Manieren. Ich werde dösen, dachte es - und es döste. Oben auf dem
Dattelbaum botanisierte emsig und leise gurrend ein kleiner Makak. Es
war ein sehr fröhliches Äffchen, und es freute sich permanent darüber,
dass es ein Äffchen war und dass es überhaupt da war. Dazwischen turnte
es ein wenig nach der Methode "Mein System" oder "Wie bekomme ich den
schönsten Schwanz, die längsten Arme und die kürzesten Beine?". Dann
setzte es sich auf einen Ast und suchte mit größter Aufmerksamkeit nach
lästigen Ausländern in seinem Fell und exmittierte sie ohne
Unterschied, Männer und Frauen und selbst zarte Kinder. Es war eine
mühselige, aber ertragreiche und dankbare Arbeit.
"An drei
Stellen zugleich kann ich mich kratzen", sagte der kleine Makak und
grinste selbstzufrieden, "mit dem Schwanz und dem einen Bein halte ich
mich, was übrig ist, das kratzt. Wie weise ist doch die Natur!"Der
kleine Makak war eben ein sonniges und bescheidenes Gemüt. Mitten in
dieser Prüfung seiner Garderobe wurde er jedoch durch das etwas heisere
Organ des Krokodils gestört. Das Krokodil hatte nach oben gesehen und
das Äffchen bemerkt. "Pst, Sie", rief es, "kommen Sie runter, ich will
Sie fressen." Es sagte "fressen", denn das Krokodil hat keine feine
Ausdrucksweise. Der kleine Makak erschrak furchtbar. "Nein,
keinesfalls!"
sagte er weinerlich, und sein Fell sträubte sich vor
Angst, so dass die lästigen Ausländer ganz verstört umherliefen. "Sie
wollen also nicht", fauchte das Krokodil hämisch und pustete bösartig
durch die Nasenlöcher. "Gut, ich werde warten, bis der Appetit Sie vom
Baum treibt, wenn nichts mehr da ist. Alles im Leben ist Appetit. Ich
weiß das."
Der kleine Makak sagte gar nichts mehr, er nahm ein
Dattelblatt und schluchzte fassungslos hinein. Wo war nun die Weisheit
der Natur, was nützten einem nun die langen Arme und die kurzen Beine,
die man durch "Mein System" erzielte, wenn sie verschluckt werden
sollten? "Arroganter Kerl", knurrte das Krokodil und räusperte sich
gehässig, "ziert sich, als wäre er ein besonderer Leckerbissen, dabei
ist Affenfleisch ganz kommun." Der kleine Makak war aber gar nicht
arrogant, er hatte bloß schreckliche Angst, weil er gefressen werden
sollte, und er dachte an Papa und Mama und an des Makaknachbars älteste
Tochter, von deren lächelndem Mäulchen er den ersten Kuss bekommen, weil
er ihr galant und ritterlich das zarte Fell abgesucht hatte. Und bei
solchen Gedanken ist das ganz gleich, ob es ein großer Mensch ist oder
eine kleine, zitternde Affenseele - und bei vielem anderen übrigens
auch. Aber es gibt etwas auf der Welt, das sich dazwischen armer,
geängstigter Geschöpfe erbarmt, und es erbarmte sich auch des kleinen
Äffchens. Grad als der Makak zum zweiten Dattelblatt griff und
hineinheulte, war ihm, als umschlänge ihn ein Affenschwanz, und eine
Stimme flüsterte ihm einen Gedanken zu - es konnte Mama oder Papa sein
oder des Nachbars Älteste. Der Gedanke war so schön, dass der kleine
Makak sofort aufhörte zu heulen, sein Fell legte sich wieder, und sein
Frätzchen nahm den Ausdruck unsagbarer Heiterkeit an, der Heiterkeit,
die so besonders hübsch ist, wenn sie ein hässliches Gesicht verklärt.
"Pst, Sie", äffte der kleine Makak das Krokodil nach und warf ihm Dattelkerne auf den Kopf. "Sind Sie denn auch patentiert?"
Wie
viele sind so! Kaum geht's ihnen gut, so schmeißen sie mit
Dattelkernen. Das ist menschlich, und die Affen haben ja so etwas
Menschliches.
"Wieso patentiert?" fragte das Krokodil misstrauisch, "ich will Sie fressen, und das werde ich auch tun."
Das
Äffchen kreuzte die langen Arme über der Brust und sah überlegen auf
das Krokodil herab. "Alle anständigen Leute in der Wüste werden jetzt
patentiert", sagte es, "sonst ist man nicht fair. Aber man muss was
haben, was andere nicht haben."
Dich will ich bald haben, dachte
das Krokodil ärgerlich, aber die Sache ging ihm im Kopf herum, denn es
wollte gern fair sein. Da ein Krokodilgehirn nicht groß ist - je größer
das Maul, um so kleiner das Gehirn -, war seine Denkkraft bald
erschöpft. "Wo kann man denn patentiert werden?" fragte es. "Beim
Wüstenpatentkomitee. Das ist ein Büro." Das Krokodil besann sich. "Wie
komme ich da am besten hin? erkundigte es sich, "vorausgesetzt, dass es
nicht weit ist und dass Sie hier warten. Darauf muss ich mich verlassen
können."
"Sicher", sagte das Äffchen und rieb sich die Hände vor
Vergnügen, "das Büro ist, wie alle Büros, in der Wüste. Guten Erfolg,
hoffentlich reüssieren Sie!"
Das Krokodil krabbelte ans Ufer und
trottete langsam in die Wüste hinein. Nach einer Weile kam es an eine
Bretterbude, da dachte das Krokodil: Aha. Wie viele haben schon "Aha"
gedacht, aber es war nichts dahinter. Diesmal aber war es doch richtig,
denn auf der Bude stand in großen Lettern: Wüstenpatentkomitee GmbH
(Gesellschaft mit besondrer Hinterpfote). Eben verließ das Rhinozeros
mit freundlichem Kopfnicken das Lokal, und das Krokodil trat ein und
stand vor dem Komitee.
Das Komitee bestand aus dem Kamel, dem
Marabu und dem Panther. Das Kamel hatte die Akten zu führen und
sonstige Schreiberdienste zu verrichten, es ließ mit subalterner Miene
die Unterlippe hängen und trug das allgemeine Wüstenehrenzeichen um den
Hals, eine kleine Tretmühle in den Landesfarben. Der Marabu hatte keine
Haare auf dem Kopf und war juristischer Beirat, und der Panther als
Vertreter der Behörde saß an einem Tisch und manikürte seine Pfoten.
Als das Krokodil sah, dass das ganze Komitee essbar war, klappte es vor
Appetit mit den Kinnbacken. "Hören Sie doch auf zu klappen!" schrie der
Panther gereizt, "macht einen ja nervös!"
Das Krokodil ärgerte
sich, aber es wollte gern ein Patent haben, und so legte es bescheiden
und leise die obere Kinnlade auf die untere.
"Was wünschen Sie?" fragte das Kamel und schob die subalterne Unterlippe nach oben.
"Ich will patentiert werden."
"Und woraufhin?"
"Das ist mir ganz egal. Auf meinen Appetit."
"Lachhaft", murmelte der Panther, "haben ja alle."
"Dann
auf mein großes Maul", sagte das Krokodil eingeschüchtert und sperrte
den Rachen empfehlend auf. "Ihr pp. Maul ist recht groß, wie wir es
hier in loco sehen", meinte der Marabu als juristischer Beirat, "aber
damit stehen Sie nicht allein da. Die meisten Menschen haben ein viel
größeres."
Das Krokodil weinte zwei von den bekannten
Krokodilstränen und glotzte ratlos und dösig auf das essbare Komitee.
Schließlich wurde es aber böse und schlug den Schuppenschwanz erregt
hin und her. "Ich will aber patentiert werden!" schnappte es
asthmatisch vor Ärger.
"Ruhe! Sonst werden Sie rausgeschmissen!" brüllte der Panther und schlug mit der Pfote auf den Tisch.
"Jawohl,
Ruhe!"
blökte das Kamel und ließ die subalterne Unterlippe devot
hängen, indem es diensteifrig nach dem Panther schielte.
"Wenn
ich Ihnen einen Rat geben darf", kakelte der Marabu höflich und
beschwichtigend, "so würde ich Ihr Gebiss patentieren lassen. Soweit ich
es übersehen konnte, als Sie Ihr wertes Maul öffneten, ist es von
achtbaren Dimensionen und jedenfalls einzig in seiner Art. Es ließe
sich als Fleischhackmaschine registrieren."
"Also dalli", sagte
der Panther, zum Kamel gewandt, und strich sich die Schnauze, "lesen
Sie das Register vor!" Das Kamel las eintönig, mit blökender Stimme, da
es der Meinung war, es käme einem Unterbeamten nicht zu, ein Wort
eigenmächtig besonders zu betonen. "Patent Nr. 1. Der Brillenschlange
für eine Brillenzeichnung auf dem Kopfe. Abteilung optische Geräte.
Patent Nr. 2. Dem Känguruh für eine Beuteltasche auf dem Magen.
Abteilung Galanteriewaren. Patent Nr. 3. Dem Rhinozeros für ein Horn auf
der Nase. Abteilung Bijouterie." "Sie können nun zwischen einem
englischen und einem deutschen Patent wählen", wandte sich der Marabu
an das Krokodil, "auf dem englischen steht darauf 'made in Germany' und
auf dem deutschen ›façon de Paris‹." "Welches ist denn besser?" fragte
das Krokodil misstrauisch. "Das ist lediglich Geschmackssache", sagte
der Marabu, "das Känguruh zum Beispiel wählte das englische Patent mit
Rücksicht auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse
Australiens, während das Rhinozeros, das nur auf Schick etwas gibt,
sich ohne Besinnen für façon de Paris entschieden hat."
"Ich will aber beide haben", sagte das Krokodil.
"Das
geht nicht", meinte der Marabu und zuckte bedauernd die Flügel, "aber
ich würde Ihnen, da es sich um eine Fleischhackmaschine handelt, zum
englischen Patent raten ..." "Also Schluss!" brüllte der Panther,
"schreiben Sie: Patent Nr. 4. Dem Krokodil für eine Fleischhackmaschine
- im Maul - äh - Abteilung Küchengeräte. Guten Morgen!" Mit diesen
Worten stand der Panther auf, nahm den Schwanz vorschriftsmäßig über
die Pfoten und verließ schnurrend das Lokal, die Bürostunden waren zu
Ende.
Das Kamel fertigte das Diplom aus, und der Marabu übergab
es dem Krokodil mit einigen ermahnenden Worten. "Seien Sie recht
vorsichtig", sagte er, "Diplome sind etwas rein Dekoratives, sie sind
auf sogenanntem autosuggestivem Wege aus dem überaus zähen und gänzlich
unverdaulichen Stoff der Tradition hergestellt - ein übrigens
internationales Verfahren -, also verschlucken Sie es ja nicht! Ich
empfehle mich Ihnen." Und der juristische Beirat frühstückte einen
langen Wurm, den ihm seine Frau in Butterbrotpapier eingewickelt hatte.
Marabus lebten in der Nähe einer europäischen Niederlassung und waren
schwer kultiviert. Daher das Butterbrotpapier und die juristischen
Kenntnisse.
Als das Krokodil den juristischen Beirat frühstücken
sah, wurde ihm ganz schwach. Es nahm behutsam sein Diplom zwischen die
Zähne und trottete eiligst ab, dem Flussufer zu, um den kleinen Makak zu
fressen. Aber das Äffchen war nicht mehr da.
Wie unzuverlässig
doch heutzutage die Leute sind! dachte das Krokodil, kein Wunder, dass
man das Alte und Gute patentiert. Und es blies sich ganz dick auf vor
Stolz und kroch mitten in den Schlamm hinein.
So lag es Stunden.
Indes war es Abend geworden, und es sammelte sich viel Publikum im Fluss
und an den Ufern, um Abendbrot einzufangen.
"Warum speisen Sie
nichts, Herr Kollege?" fragte ein kleiner Alligator das Krokodil im
Vorbeischwimmen. Er sah satt und zufrieden aus und schluckte mit
jovialer Miene an den Resten eines Angehörigen.
Das Krokodil
konnte schwer sprechen. "Ich bin patentiert", lispelte es hochmütig,
"ich kann nichts essen, ich habe mein Diplom im Maul. Dafür bin ich
jetzt fair." "Ich für mein Teil bin lieber satt", meinte der kleine
Alligator, "aber Sie sehen ja aus, als hätten Sie seit heute früh
nichts mehr zu sich genommen. Das gesunde Grün Ihrer Gesichtsfarbe ist
förmlich grau geworden. Legen Sie doch Ihr Diplom ans Ufer und speisen
Sie zu Abend!" Das Krokodil kämpfte innerlich - der Appetit war
furchtbar. "Nein", lispelte es schließlich mühsam, "am Ufer stehlen es
mir die Affen."
"Dann spucken Sie's einfach aus!" sagte der
kleine Alligator frech, "wozu brauchen Sie denn ein Diplom? Wenn man
ein Diplom nur immer im Maul haben kann, soll man lieber darauf
verzichten, sonst kann man nichts mehr fressen und wird zum Schluss
selbst gefressen und noch dazu ausgelacht." Das ist eine große
Lebensweisheit, aber sie bezieht sich natürlich nur auf Krokodile.
Das Krokodil blieb unbeweglich. Es behielt sein Diplom im Maul und glotzte den Vetter böse und hungrig an.
"Wenn
Sie denn schon Ihr Diplom im Maul behalten", fuhr der Alligator fort,
"so gestatten Sie vielleicht, dass ich Ihre Hintertatze zum Nachtisch
esse."
Das Krokodil drehte sich vor Angst und Wut um sich selbst
herum, und in dieser Angst und Wut verschluckte es sein Diplom. Da
wurde ihm sehr übel, so übel, wie ihm noch nie gewesen war - und in
tiefer Ohnmacht schwamm es flussabwärts, wobei es vom Alligator und
anderen teilnehmenden Verwandten aufgegessen wurde. Damit endet diese
traurige Geschichte.
Nur eine Familienanzeige habe ich noch
hinzuzufügen: Der kleine Makak hatte sich inzwischen mit des Nachbars
Ältester verlobt. Sie waren ein glückliches Brautpaar und hatten gleich
am Tage darauf eine Garden-Party im Kreise der Angehörigen unternommen,
natürlich begleitet von einer Ehrenäffin, denn die Affen haben etwas
sehr Menschliches, wie jeder weiß. Dabei erfuhren sie den Tod des
patentierten Krokodils. Ein ganz alter Affe meldete ihn, und er sagte
"ja, ja" dazu. Das sagte er immer, und darum galt er für sehr klug. Der
kleine Makak freilich wusste mehr davon, denn er hatte ja das
verblichene Krokodil persönlich gekannt, so persönlich, dass es ihn fast
gefressen hätte. Und das ist die persönlichste Bekanntschaft, die man
machen kann. Und da die Dame d'honneur gerade auf einen Dattelbaum
geklettert war und fraß - sie fühlte keine Liebe mehr und fraß daher
doppelt-, so erzählte der kleine Makak seiner Liebsten die ganze
grässliche Geschichte. "Lass dich ja niemals patentieren, Makchen!" sagte
die Kleine und umschlang ihn mit ihrem Schwanz.
"Nein, niemals", sagte Makchen und suchte liebevoll und emsig im Fell seiner Braut.
(Manfred Kyber)
(Bildquelle: wikimedia.commons.org)